Haus Nummer 1
Kapitel 5
Ein bisschen wie Harry Potter
Mittlerweile ist eine Menge Zeit ins Land gegangen, und ich habe mich etwas tiefer in die vierländer Kultur und ihre Bauernhäuser und so weiter eingelesen. Außerdem haben wir unsere Facebook Vier- und Marschlande Seite gegründet und fleißig gepflegt (und wie schön – damals hat sogar die liebe Frau Schwirten über uns in der Bergedorfer Zeitung berichtet). David kann schon etwas mehr als nur Sabbern und Schreien, und alles geht weiterhin seinen gewohnten Lauf der Dinge.
Doch irgendwann beschließen wir, unsere Pläne / Träume / Visionen (welches Wort passt?, ich weiß es nicht, Visionen sind, denke ich, ziemlich ausgelutscht, egal) auch anderen zu erzählen, um vielleicht Tipps oder Hilfe zu bekommen.
„Ein Bauernhaus?“, ruft Thomas entsetzt, nachdem ich ihm unseren Plan erzählt habe.
„Na ja …“, sage ich, was soll ich sagen?, „ja.“
„Ja nu.“
„Daaaaaaaa!“, schreit David, der irgendetwas entdeckt hat, das kein Bauernhaus ist.
„Was sagst du denn?“, fragt Tati.
„Bäääääääääääh“, plärrt Johanna. Ach ja, die ist mittlerweile auch schon geschlüpft.
„Was sagst du?“, fragt Thomas.
„Was du sagst?
„Bäääääääähähähähähä!“
„Was?“
„Daaaaaa, Papa, daaaa! Guck!“
„Was?“
„Ein Bauernhaus! Was sagst du dazu?“
„Tja.“
„Tja?“
Wir befinden uns in der Bahnhofsgaststätte Fünhausen am Sandbrack, und was folgt ist ein lustiges Sammelsurium aller Horrorszenarien, die ein Leben wohl zu bieten hat – Schulden, Privatinsolvenz, körperlicher Verfall, Scheidung, Psychiatrie, nie wieder Urlaub, nie wieder Zeit, nie wieder Leben. Vielleicht übertreibe ich ein bisschen, aber im Grunde genommen war schon vieles davon dabei. Doch Thomas meint es gut mit uns, und das finden wir gut. Thomas ist bis heute sowieso einer unserer besten Ratgeber, was unsere Pläne angeht, und wir sind ihm bis heute sehr dankbar dafür (und er macht tatsächlich unerwartet, ja unerhört, gute Steaks!).
Am nächsten Tag bringe ich David und Johanna in den Kindergarten, als mir auf dem Rückweg ein altes Bauernhaus mit kleiner Scheune auffällt. Sofort halte ich an und stelle mit Schrecken fest, dass das komplette Reetdach auf der einen Seite eingefallen ist. Ich stelle das Auto am Straßenrand ab und gehe auf das mutmaßlich menschenleere Haus zu. Supergeil ist das. Doch superkaputt. Auch die Scheune, die damals mit Eternitplatten verziert wurde, sieht schon reichlich verknautscht aus. Ich streune ein wenig auf dem Grundstück herum und denke, ich komme einfach später noch einmal wieder. Vielleicht sehe ich dann mal einen Menschen auf dem Grundstück.
Ich gehe zurück zu meinem Auto und muss mit seichter Belustigung feststellen, dass ich wohl die ganze Zeit beobachtet wurde. Denn plötzlich verschwinden mindestens drei neugierige Herrschaften hinter den Gardinen im Nachbarhaus und wurden von da an nie mehr gesehen (vielleicht). Am liebsten würde ich klingeln. Aber ich muss zur Arbeit und habe keine Lust auf Rottweiler oder Bodybuilder.
Die nächsten Wochen fahre ich nach dem Kindergarten ständig an dem Haus vorbei. Nie sehe ich da irgendwen. Und jedes mal wirkt das Haus ein Stückchen trauriger. Ich stelle mir den Regen vor, der immer regnet im Herbst und im Winter, und oft auch im Frühlung – oder sogar im Sommer. Ich stelle mir vor, wie die Balken immer nasser werden, verschimmeln, und irgendwann den eigenen Druck und den des verbliebenen Reetes nicht mehr aushalten und zusammenbrechen. Da liegt es dann, zerfallen, nass und tot. Vielleicht freuen sich die Mäuse und folglich auch die Katzen, die Raubvögel und bestimmt auch die Rottweiler.
Ich frage mich, wie das sein kann, und ob da keiner etwas machen kann. Wenn ein Haus zusammenfällt, können ja schließlich auch Menschen verletzt werden. Doch später erzählen uns Thomas und andere tolle Menschen, die wir später noch kennenlernen werden, dass das aber leider die traurige Realität ist. Privat ist privat. Und wenn da ein Haus zusammenfällt, fällt es eben zusammen. Ein ähnliches Schicksaal wird wohl auch einem Haus am Hauptdeich widerfahren, an dem ich auch ständig vorbeifahre, denn das ist auch privat und steht seit vielen Jahren leer (gut, ich sag mal, das Haus steht zum Verkauf, aber für einen derartigen Patienten, kann man aber auch keine Unsummen verlangen; sag ich mal).
Einige Wochen später bin ich erneut bei dem Haus mit dem zusammengefallenen Dach und sehe tatsächlich einen Menschen auf dem Grundstück. Juhu!, ich stelle mein Auto kurz ab und gehe mit leicht erhöhter Geschwindigkeit zurück zu dem Haus (zu schnell ist verdächtig, zu langsam auch). Doch der Mensch ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich gehe weiter, suche hinter der Scheune und gucke durch die eingefallene Mauer in das Haupthaus. Keiner da, doch ich erahne das frühere Leben in dem Haus und denke, wie anders doch alles geworden sein muss (halt, stopp!, so alt bin ich noch nicht). Und dann frage ich mich, ob es Harry Potter war, der gerade seinen dämlichen Ich-mach-mich-unsichtbar-und-so-weiter-Umhang (oder wie das heißt) übergezogen hat. Doch ich erhalte keine Antwort. Wo sind die Zauberer, wenn man sie braucht? Severus Snape, bist du da? Harry darf in der Muggle-Welt doch gar nicht zaubern! Ach was soll’s er ist weg. Dafür guck ich nie wieder Harry Potter (und Tati und ich gucken jeden Winter Harry Potter.)
Heute, fünf Jahre später, weiß ich, genau dieses Haus ist das erste Bild, das ich jemals auf unserer Facebook Vier- und Marschlande Seite gepostet habe. Damals ist mir das eingefallene Dach nicht mal aufgefallen. Doch auch damals war es schon kaputt. Und heute macht es mich ein bisschen traurig. *
*Jemand, der jemanden kannte, dem das Haus gehört hat, hat mich sogar einmal angeschrieben. Doch wir konnten nichts tun.
Wenn ihr irgendwelche Tipps für uns habt, würden wir uns wirklich sehr freuen, wenn ihr uns anmailen würdet (über eine tolle “Belohnung” können wir dann auch reden ;) info@4lande.de