Mein Fahrrad und das Land
Kapitel 3
Die Zeit vergeht und die Mühle verschwindet in meinen Gedanken wie die Landschaft im Nebel durch den ich fahre. Irgendwo in Reitbrook, irgendwo am Deich. Plötzlich bremse ich und springe von meinem alten Rennrad. Ich schmeiße meinen Rucksack auf den Boden und schnappe mir meine Kamera. Die Sonne brennt sich durch den Nebel und schimmert leise diffus auf der Dove Elbe. Ich mache zweihundert Fotos (oder so) und fahre irgendwann weiter.
Trotz allem Hauswahn will ich natürlich auch meiner normalen Arbeit weiter nachgehen. Und so kommt es, dass ich genau deshalb ganz schön viel mit meinem Rad unterwegs bin. Denn ich muss jeden Tag nach Hamburg kommen. Ich gebe zu, ich fahre nicht immer den ganzen Weg, aber von Fünfhausen bis Nettelnburg, Bergedorf, Mittlerer Landweg oder Tiefstack ist es ja auch schon eine ganz nette Strecke. Und hier begegnen mir tatsächlich wieder irgendwelche Häuser, die sich mir in den Weg schmeißen.
„Betreten der Baustelle verboten!“, steht da, „Eltern haften für ihre Kinder“, und so weiter. Aber da können die Häuser ja auch nichts dafür. Die Schilder auch nicht. In Reitbrook sehe ich eine Menge alter, größerer Bauernhäuser oder Villen, die mehr und mehr zerfallen. Tiefe Risse brechen sich in das Mauerwerk, Klinkersteine fallen herab und Dächer wie Löcher geben einen kleinen Einblick in die einst wohl prächtigen Bauten *. Doch so stehen sie da, verloren am Deich, mitten zwischen weiten Feldern und unendlichem Himmel.
Es regnet.
Es regnet.
Es regnet.
Der Herbst, der Winter, es stimmt, manchmal denke ich, ich bräuchte meine Regenkluft überhaupt nicht mehr auszuziehen. Jeden Tag, an dem ich über die verlassenen Deiche fahre, klatscht mir der Regen auf meine Visage, und ich frage mich, ob ich die Sonne jemals wiedersehe.
„EY, fahr gefälligst auf dem Fußweg!“, schreit mir plötzlich eine polternde Stimme entgegen.
Ich zucke zusammen, dann schreie ich zurück: „§* %§$% )&%= “$%!!!“
Ich sage mal, ich habe nicht unbedingt das kühlste Gemüt. Ich sage aber nicht, was ich dem Kerl entgegengeschmettert habe. Es hat allerdings gereicht, um einen Reflex in seinem Gehirn (kommen Reflexe aus dem Gehirn?, vielleicht aus dem Rückenmark?) auszulösen – er tritt auf die Bremse, und ich rase fast ungebremst in das vollgebremste Auto (kann man das so sagen?). Ein so ein Tier mit Stiernacken und Oberarmen wie mein … Oberkörper steigt aus und rennt auf mich zu. Ich bete (Herr Jesus und so weiter; es scheint etwas gebracht zu haben).
Ich stammele nur: „Ööööööööhm, hier ist doch gar kein Fußweg …“
„…“, der Kerl bleibt stehen und sagt kein Wort.
„Öööööhhhm …“
…
Ich sterbe.
Ich sehe seine planetenartige Faust schon meinen Schädel zerschmettern (warum hätte eigentlich nicht auch ich ein bisschen mehr Masse bekommen können?) und frage mich, was aus meiner schwangeren Tati und Blubberwusel werden soll. Ich denke, sein kleiner Finger würde reichen, um mich wie eine Laus zu zerquetschen.
„Jaaaa, Digger!, stimmt. Alles klar, sorry, Mann!“, ruft er.
Dann geht er und ich bete wieder. Danke!
Von diesem Tag an habe ich mir gesagt, Stefan, sag ich, beim nächsten Mal gehst du besser vorher ins Fitnessstudio (nicht – ich bräuchte Jahrzehnte, und außerdem will ich ja nicht Gleiches mit Gleichem und so weiter).
Irgendwann, bestimmt zweitausend verregnete Tage später, fällt mir am Straßenrand ein kleines Häuschen auf. Leer, zerfallen, winzig. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen (oder zerbrochen) und das Mauerwerk könnte einen dieser modernen „Urban-Nature-Awards“ für innerstädtische Hauswandbegrünung gewinnen. Stichwort Feuchtigkeit, Moos, Hauswandbegrünung.
Dann blicke ich an einem fünftausend Meter hohen Strommasten empor in den grauen Regenhimmel, als mir plötzlich ein dicker, superfetter Regentropfen direkt ins Auge schmettert.
„Aaah!“, rufe ich und frage mich, ob das jetzt einer gesehen hat. Lächerlich, hier lebt kein Mensch. Reitbrook ist der dünnstbesiedelte Stadtteil in ganz Hamburg (ich denke, es gibt hier weniger Menschen auf einem Quadratkilometer als in der Antarktis; Pinguine mal ausgeschlossen, oder halt, leben die da oder weiter oben?). Ich wische mir den grauen Regen aus dem Auge und merke plötzlich das mehr oder weniger leise Surren der Starkstromkabel. Ich muss an Katzen denken und frage mich, ob es schlau wäre, unter einem Starkstrommasten zu leben. Oder ob eine Katze Sympathie für einen Starkstrommasten entwickeln könnte. Ist mir alles egal, ich setze mir in den Kopf, abends mal, auf dem Rückweg von der Arbeit, hier irgendwo zu klingeln und zu fragen, ob jemand den Besitzer des Hauses wüsste.
* Jahre später bin ich erneut an den Häusern vorbeigefahren. Zwei der Häuser wurden saniert, und ich freue mich ein bisschen, eines wurde allerdings – wie soll ich sagen? – zwar wieder „hergerichtet“, aber irgendwie auch versaut. Denn mit Schrecken musste ich feststellen, dass der schöne, alte Klinker nicht erhalten, sondern einfach durch eine dicke Schicht Putz ersetzt, wurde. Das Haus scheint aus dem Rahmen gefallen, es liegt da und man glaubt, man hat es hier mit einem Haus aus Pöseldorf zu tun. Es sei mir verziehen.
Wenn ihr irgendwelche Tipps für uns habt, würden wir uns wirklich sehr freuen, wenn ihr uns anmailen würdet (über eine tolle “Belohnung” können wir dann auch reden ;) info@4lande.de